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Ethische Leitlinien therapeutischen Handelns

Menschenwürde, Selbstbestimmung, Fürsorge, Vertrauen, Respekt, Mitgefühl und Partizipation als wichtige Werte prägen den Umgang mit Patientinnen und Patienten in unserer Klinik. Ein interdisziplinäres Team hat ethische Leitlinien erarbeitet, an denen wir in der Privatklinik Hohenegg unser therapeutisches Handeln im umfassenden Sinn entsprechend unserem Kontext-Modell ausrichten.

Menschenwürde und Selbstbestimmung

Der Respekt vor der unverhandelbaren Würde jeder unserer Patientinnen ist die Basis allen therapeutischen Handelns durch sämtliche Disziplinen. Dies beinhaltet den Anspruch auf Schutz der körperlichen und seelischen Integrität sowie auf Freiheit und Selbstbestimmung. Daraus ergibt sich die Verpflichtung zu empathischer, nicht-wertender Gesprächsführung sowie zu einem qualifizierten therapeutischem Angebot aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Entscheidung über den einzuschlagenden therapeutischen Weg bleibt, wenn immer möglich, in der Kompetenz des Patienten. Ohne dessen informierte Zustimmung ist keine therapeutische Intervention zulässig. Auch die Entscheidungshoheit bezüglich der Einnahme von Medikamenten bleibt jederzeit bei der Patientin. Zur Selbstbestimmung gehört das Recht, eine empfohlene Therapie abzulehnen. Wir anerkennen die Einzigartigkeit jeder Patientin und damit auch ihr letztlich nie vollständig verstehbares Geheimnis.

Gerade bei psychischen Erkrankungen zeigt sich, dass Patienten nicht immer fähig sind, autonom zu entscheiden und zu handeln. Manchmal braucht es einen längeren Weg, um herauszufinden, was jemand im Tiefsten will. Primäre therapeutische Aufgabe ist es, Patientinnen auf dem Weg zu solcher Autonomiefähigkeit zu begleiten. Wenn ein Patient urteilsunfähig ist und seinen aktuellen Willen nicht mehr äussern kann, gilt sein mutmasslicher Wille, der sorgfältig zu eruieren ist, als verbindlich.

Fürsorge als Hilfe zur Selbstentfaltung und Selbstsorge

Unsere Verpflichtung zur Fürsorge umfasst einerseits die Forderung, nicht zu schaden, und andererseits den Auftrag, Gutes zu tun. Was einem Patienten gut tut, ergibt sich aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven: Der fachlichen Expertise des Therapeuten und den persönlichen Präferenzen des Patienten. Letztere haben Vorrang, denn Fürsorge bemisst sich grundsätzlich am Willen des Betroffenen. Somit dient Fürsorge der selbstbestimmten Lebensentfaltung des Patienten. Wir sehen unsere therapeutische Aufgabe u.a. darin, die persönlichen Ressourcen eines Patienten wahrzunehmen, zu stärken und zu aktivieren. Unser Ziel ist es, Patienten auf dem Weg zu Selbsthilfe und Selbstsorge zu unterstützen.

Fürsorge zeigt sich sowohl in der fachlichen Kompetenz als auch in der empathischen Zuwendung der Behandelnden, wobei Empathie einen wesentlichen Erfolgsfaktor darstellt. Sie eröffnet einen Raum des Vertrauens, der Patienten Würde, Wert und Freiheit spüren lässt. Vertrauensbeziehungen legen die Grundlage dafür, die eigene Verletzlichkeit zuzulassen und Schwächen und Grenzen anzuerkennen. Dazu gehören Verschwiegenheit und Diskretion sowie ein sorgfältiger Umgang mit Fragen des Datenschutzes.

Gelingendes Menschsein im Kontinuum von Gesundheit und Krankheit

Unser therapeutisches Handeln geht davon aus, dass Kranksein und Behinderung zu einem normalen Leben gehören und dass Krankheit und Gesundheit keine strikten Gegensätze sind. Es gibt kein Leben ohne Störungen. Unsere therapeutische Arbeit hat das Ziel, die Auseinandersetzung mit Störungen und das Wachsen gegen Widerstände zu unterstützen, nicht aber Krankheit völlig zu überwinden. Gesundheit verstehen wir als gelingende Adaptation an die körperlichen, psychischen und sozialen Anforderungen des Lebens.

Patientinnen sind weder blosse Hilfeempfänger noch nur konsumierende Kunden, sondern eigenverantwortlich am therapeutischen Prozess Mitwirkende. Dabei ist Therapie ein offener Prozess. Sie ist ein Suchen, in dessen Verlauf der Patient nicht einfach den Zustand vor seiner Erkrankung wiedererlangt, sondern sich neu verstehen lernt und sich in gewissem Sinne neu erfindet. Wichtig für den Heilungsprozess ist ein die Selbstheilungskräfte stärkendes soziales Milieu, innerhalb dessen sich ‚heilsame Momente‘ ergeben können.

Individualität und Sozialität

Ein gesundes Selbst bewegt sich zwischen den Polen Individualität und Sozialität. Zu einer schöpferischen Entfaltung der Persönlichkeit gehört einerseits das Entwickeln von Individualität in Abgrenzung von anderen, andererseits das Zulassen-Können von Abhängigkeit sowie das Erleben von Verbundenheit mit anderen. Unsere interdisziplinäre therapeutische Arbeit unterstützt Patienten darin, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen und diese zu versorgen. Sie ermutigt zugleich, sich als Teil eines grösseren sozialen Ganzen wahrzunehmen, von dem man hilfreiche Impulse bekommt und zu dem man auch selber etwas beitragen kann.

Individuelle Selbstbestimmung gibt es nur zusammen mit Abhängigkeit von anderen und anderem. Selbstbestimmung schliesst eine passive Komponente des Sich-Bestimmen-Lassens mit ein. Souverän wird eine Person erst, wenn sie sich öffnen kann auch für das, was ihr von aussen widerfährt oder wenn sie gelassen zu ihren Abhängigkeiten stehen kann. Zur Selbstbestimmung gehört das Recht, in gewissen Situationen der Überforderung die eigene Entscheidungsbefugnis an jemand anderen delegieren zu dürfen.

Therapie als Sinnsuche

Wir sind davon überzeugt, dass Menschen in ihrem Kern Sinn-bedürftig sind und sich eine Perspektive wünschen, die ihr Leben bedeutsam, stimmig und bejahenswert erscheinen lässt. Sinn bringt Lebensenergien zum Fliessen und stärkt die seelische Widerstandskraft (Resilienz). Unsere therapeutische Begleitung soll Patienten ermutigen, sich auf einen Prozess sowohl der Sinnfindung als auch der Sinnstiftung einzulassen: Es geht darum «Sinn im Leben zu finden und dem Leben selbst Sinn zu geben» (W. Schmid). Dabei sind die Offenheit für alltäglich-sinnliche Erfahrungen sowie für Beziehungen der Liebe und der annehmenden Zuwendung in besonderem Masse Sinn-stiftend.

Unsere therapeutische Arbeit geht davon aus, dass es im Umgang mit psychischen Krankheiten besonders  bedeutsam ist, Krisen als potentiell Sinn-stiftend zu verstehen. Sie können als Signale wahrgenommen werden, wo Lebensenergien ins Stocken geraten sind, wo eine vertiefte Auseinandersetzung lohnend wäre und wo Veränderungs- bzw. Wachstumsschritte anstehen. Therapie zielt primär auf die Haltung einer Gelassenheit durch Akzeptanz, die man auch als «aktive Resignation» bezeichnen kann. Dies meint eine empfängliche Offenheit für das, was einem widerfährt, eine achtsame Ansprechbarkeit für das Leben in einer Haltung der Resonanz. Dazu gehört die Freiheit, nicht alles kontrollieren und im Griff haben zu müssen und gewisse Phasen auch ohne Sinnerfahrung durchzustehen. Über allem steht der unbedingte Respekt vor der Sinn-Autonomie jeder einzelnen Patientin.

Partizipative Entscheidungsfindung im Zeichen der Patientenautonomie

Therapeutische Begleitung steht heute im Zeichen eines partnerschaftlichen Miteinanders von Therapeut und Patientin. Entscheidungen werden im gemeinsamen Gespräch entwickelt (Partizipative Entscheidungsfindung). Voraussetzungen dafür sind die Vermittlung verständlicher Informationen und eine offene Gesprächskultur auf dem Boden einer vertrauensvollen Therapeuten-Patienten-Beziehung. Deswegen soll von Beginn der Therapie an transparent gemacht werden, wie Entscheidungsprozesse ablaufen.

Das Prinzip der Patientenautonomie verlangt von den therapeutisch Tätigen die Bereitschaft, die Patientin sachlich und verständlich zu informieren und zu beraten, ihr dann aber das Recht zuzugestehen, selber zu entscheiden, welches Behandlungsziel verfolgt und welche Behandlungsmethoden angewandt werden sollen. Auf Zwang soll wenn immer möglich verzichtet werden. Die Letztentscheidung zwischen mehreren denkbaren therapeutischen Optionen liegt beim Patienten. Sein Leben soll sich so weit wie möglich seinen persönlichen Werten und Präferenzen entsprechend entfalten können; dem haben letztlich alle therapeutischen Prozesse zu dienen.

Arbeitsgruppe Ethik der Privatklinik Hohenegg: med. pract. Annette Bibica, Prof. Dr. med. Stefan Büchi, Sabine Claus, Dr. med. Sabine Röcker, Dr. Heinz Rüegger, Arian Zeller